Buchbesprechung

Wilder Streik – das ist Revolution

07.05.2013

»Wilder Streik – das ist Revolution«

Zum Streik der ArbeiterInnen 1973 bei Pierburg

In: express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1-2/2013

Buchbesprechung von Anton Kobel

Ein Schatz-Buch inclusive DVD für 13,50 Euro! – Dieter Braeg, der ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende von Pierburg Neuss, hat uns diesen Schatz wieder zugänglich gemacht. Ich halte dieses Buch und die dazu gelieferte DVD über einen der großen, »wilden« Streiks für das Buch des Winterhalbjahres 2012/13. Soviel an Kritik, hier als Lob verstanden, gleich vorweg.

Als »wilder Streik« oder »spontaner Streik« wird in der BRD ein Streik bezeichnet, bei dem die Gewerkschaft weder die »Führung« noch die juristische und finanzielle Verantwortung hat. Diese »wilden«, »spontanen« Streiks sind von der Gewerkschaft nicht getragen, oft gegen ihren Willen zustande gekommen und zumindest ohne ihre »offizielle« Unterstützung organisiert. So auch beim Autozulieferer Pierburg, wo es vor allem Frauen waren, die die Initiative zum Kampf gegen diskriminierende ›Leichtlohngruppen‹ aufgenommen und getragen haben.

Was macht dieses Buch und die DVD zum Schatz?

Am Beispiel dieses Arbeitskampfes von 1 700 Frauen – überwiegend aus Griechenland, Spanien, Türkei, Jugoslawien, Italien – und ca. 300 Männern wird ein gutes Stück bundesdeutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte den einen in Erinnerung gerufen, den anderen, hoffentlich vielen Jüngeren in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, als ein Teil oft verschwiegener Geschichte der hiesigen ArbeiterInnenbewegung erstmals vermittelt. Der Begriff »Gastarbeiter« hatte wenige Jahre vorher den bis dahin für die Arbeitsimmigranten gebrauchten Begriff »Fremdarbeiter« ersetzt. Zu sehr hatte das Wort »Fremdarbeiter« dann doch, 20 Jahre nach 1945, an das leidvolle Schuften der »Fremdarbeiter« in der nazideutschen Kriegswirtschaft erinnert. Diese »Gastarbeiter« hatten in den »wilden« Streiks 1973 eine bedeutsame Rolle gespielt. Es war ihr Kampf um besseres Leben und Arbeiten im Land des Wirtschaftswunders – und zu einem Zeitpunkt, wo der ersten ›großen‹ Wirtschaftskrise und steigenden Arbeitslosenzahlen u.a. mit einem  »Anwerbestopp«  begegnet wurde.

Bei Pierburg in Neuss war der Kampf erfolgreich, auch weil er die Unterstützung von IGM-Vertrauensleuten und -Betriebsräten fand und sich nach wenigen Tagen die deutschen Facharbeiter solidarisierten. Bei Ford in Köln hingegen wurde 1973 der vorwiegend von türkischen KollegInnen geführte Arbeitskampf brutal zerschlagen.

Im Buch wird dies eindrücklich geschildert, der Film auf der beiliegende DVD (Laufzeit: 42 Minuten) veranschaulicht die Hintergründe und den Verlauf des Konflikts anhand von Originalszenen.
Der Autozulieferer Pierburg war mit 3 00 Beschäftigten Teil einer Firmengruppe, die Eigentum der Familie von Alfred Pierburg war. Geschäfte wurden vor und nach 1945 gemacht. Bis 1972 bestand zwischen Firmenleitung und Betriebsrat ein sehr enges, partnerschaftliches Verhältnis. Die Betriebsratswahl 1972 brachte aktiven IGM-Mitgliedern eine solche Mehrheit und damit neue Vorsitzende, dass die sechs wiedergewählten, langjährigen BR-Mitglieder (ebenfalls Mitglied der IGM) ihr Mandat niederlegten. Dabei hatte eine seit 1968 erfolgte Organisierung wohl die entscheidende Rolle gespielt. 1968 gab es in dem Betrieb 200 IGM-Mitglieder, Ende 1974 waren es 2 00. Durch einen ersten »wilden« Streik von jugoslawischen und deutschen Frauen konnte im Mai 1970 die Niedriglohngruppe 1 abgeschafft werden. In den Aufbau eines gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers, der dann erstmals 1973 gewählt (vorher ernannt) wurde, wurden seit 1970 die ausländischen KollegInnen einbezogen. Für die Entwicklung der Kampfkraft der Belegschaft waren die Erfahrungen eines wenig erfolgreichen, »wilden« Streiks am 7. und 8. Juni 1973 bedeutsam: Der 13-Punkte-Katalog zur Beseitigung von Missständen war, so die spätere Einschätzung der Streikleitung, zwar berechtigt, doch insgesamt waren es zu viele und zu differenzierte Forderungen. Diese »Fehler« konnten bei dem knapp einwöchigen »wilden« Streik vom 13.-17. August 1973 vermieden werden. Hier wurde nur noch 1 DM Stundenlohn für alle und Abschaffung der Frauen-Lohngruppe 2 gefordert. Nachvollziehbar wird auch, warum »wilde« Streiks nicht als »spontane« Streiks bezeichnet werden dürften. Ohne zahlreiche Vorbereitungen gäbe es sie nicht. Die Einzelheiten dieses Arbeitskampfes und dessen Erfolge werden in verschiedenen Beiträgen geschildert.

Nicht unerwartet gab es zahlreiche Repressalien gegen die Belegschaft und ihre Aktiven. Im Oktober 1973 gab das Management die Verlagerung von Arbeitsplätzen bekannt. Durch innerbetriebliche Aktionen sowie eine Demonstration in der Neusser Innenstadt konnte dieser Racheakt verhindert werden.

Der Versuch, eine Reihe von FunktionsträgerInnen zu kündigen, erregte damals großes öffentliches Aufsehen: Die JAV-Vorsitzende, die beiden BR-Vorsitzenden sowie mehrere BR-Mitglieder sollten fristlos ihre Arbeitsplätze verlieren. Eine breite Solidaritätskampagne von »großen und kleinen Leuten«, darunter u.a. Günter Walraff, Ernst Bloch, Arno Klönne und Eberhard Schmidt, konnte großen Druck auf Pierburg erzeugen. Trotzdem vereitelte erst das Arbeitsgericht die Kündigung. Eines der im Anhang versammelten Dokumente ist die zehnseitige Urteilsbegründung. Es ist eigentlich nur bedingt vorstellbar, mit welchen Methoden die Kündigungen begründet wurden. Die belastenden Aussagen eines gekauften, ehemaligen BR-Mitglieds waren der Firmenleitung 25000 DM wert.

All das und noch viel mehr (z.B. passive Widerstandsformen, Sex als Waffe, Erotik und Zärtlichkeit, Gewerkschaftsarbeit mit den ausländischen KollegInnen) wird auf 175 Seiten dargestellt. Zu dem »mehr« gehört auch eine Einführung von Peter Birke in die damalige Zeit. Nach den ersten »wilden« Streiks im September 1969 gab es 1973 zum zweiten und bisher letzten Mal eine öffentlich bedeutsame »wilde« Streikwelle, mit ca. 300 000 Streikenden in mehr als 100 Betrieben. Diese Streiks dauerten oft mehrere Tage. Polizei und Werkschutz kannten meist kein Pardon! Erwähnen können hätte man in dem Buch die 1973 erstmals erfolgte Besetzung der Uhrenfabrik LIP in Besançon/Frankreich (verfilmt von Christian Rouaud: »LIP oder: Die Macht der Phantasie«, Frankreich 2007), die den spektakulären Auftakt zu über 200 Betriebsbesetzungen allein in Frankreich bildete, ebenso wäre ein Hinweis auf Bezüge zu den Fabrik- und Arbeitskämpfen in Italien sinnvoll gewesen. Insbesondere im Zusammenhang mit der – vielfach unterschätzten – Rolle von Frauen in diesen Arbeitskämpfen sei hier auch noch »We want Sex«, der Film über den Arbeitskampf der NäherInnen bei Ford Dagenham, von Nigel Cole empfohlen. Auch hier ging es, wie bei Pierburg, um die Abschaffung der diskriminierenden Leichtlohngruppen in der Autoindustrie – zwei Jahre später wurde in Großbritannien ein Gesetz zur Lohngleichheit verabschiedet.

Aber auch diese Hinweise sollen nicht als Kritik an den Verfassern verstanden werden. Ihnen gebührt als den Schatzgräbern Lob und Dank!

Bezug über: »Die Buchmacherei«, Berlin (Tel.: 030 – 81857759, Email: diebuchmacherei@gmx.net) für 13,50 Euro plus 1,50 Euro Porto oder über den Buchhandel

Der Autor steht für Veranstaltungen, Filmvorführungen und Lesungen zur Verfügung und freut sich über Anfragen: 0043-662-825453 (mit AB) oder:  dieter.braeg@gmx.de

anton kobel

Wilder Streik – das ist Revolution!
Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973
ISBN:978-3-00-039904-6
Preis: 13,50 Euro

 

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